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Neue Gewitterwolken am Horizont. Ein alter Konflikt eskaliert
zu einer neuen Krise. Das chinesische Schriftzeichen für Krise meint
sowohl Lebensgefahr wie auch große Chance, je nachdem, ob es gelingt
die Krise mittels diplomatischer Judo-Techniken zu meistern und die Kraft
der Krise für etwas Produktives zu nutzen. Hammarskjöld war,
spätestens seit seiner China-Mission, mit der asiatischen Philosophie
und Psychologie des wu-wei (nicht-handelndhandeln) und des Judo vertraut.
Die Bücher, welche man später, nach seinem Tod, auf seinem
Nachttisch im Schlafzimmer vorfand, waren Werke über asiatische
Kultur und Zen-Buddhismus.
Am 26. Juli 1956 nationalisierte Ägyptens Ministerpräsident Nasser
den geostrategisch wichtigen Suezkanal, die 160 km lange Wasserstraße
zwischen Mittelmeer und Rotem Meer, damals der kürzeste Weg von Europa
nach Asien. Es war dies die Reaktion auf die überraschende Rücknahme
des Weltbank - Angebots einer finanziellen Beteiligung am Bau des Assuan-Staudammes.
Nasser vermutete israelische und britisch-französische Intrigen. Besitzer
des Suezkanals war, unter britischem Militärschutz, der europäische
Konzern Compagnie Universelle du Canal Maritime de Suez (CCMS). Der französische
Staat und ein Zusammenschluss französisch-belgischer Geschäftsleute
besaßen 66 % der Aktien und 15 % der Rendite, die britische Regierung
war mit 34 % am Aktienkapital beteiligt. Die CCMS war, genau wie die Union
Miniere im Kongo, ein Staat im Staate. Nasser wollte diesen wirtschaftspolitischen »Staat« entmachten
und mit den Gebühren aus der Suezkanal-Benutzung Ägyptens Anteil
am Assuan-Projekt teilfinanzieren. Zudem befand sich Ägypten quasi im
Kriegszustand mit Israel und sperrte den Suezkanal für den pro-israelischen
Schiffsverkehr.
Vom 1. September bis 1. Oktober 1956 fanden in Paris geheime Gespräche
zwischen den Regierungen von Frankreich, England und Israel über eine »Operation
Musketier« statt. Der israelische Generalstabschef Moshe Dayan nahm an
der abschließenden Militärplanung teil. Israel solle Ägypten
angreifen und den Sinai bis zur Kanalzone besetzen, woraufhin dann Truppen
der französischen und britischen Regierungen als eine Art Suez-Kanal-»Polizei « eingreifen
würden, um die andere Kanalseite zu besetzen. Hammarskjöld ahnte
nichts von diesem Komplott, da die UNO Dag Hammarskjöld mit Tschou En-lai
in Peking. Januar 1955 bislang über keinen eigenständigen Nachrichtendienst
verfügt, als er am 5. Oktober bei den Verhandlungen in New York mit den
betreffenden Regierungen eine Außenministerkonferenz für den 29.
Oktober im Genfer Völkerbundspalast vereinbarte.
Am Montagmorgen, dem 29. Oktober, gibt es in Genf keine Konferenz. Stattdessen
besetzen israelische Truppen die Sinai-Halbinsel bis zum Suez-Kanal. Am 30.
Oktober wird das anglo-französische Ultimatum an Ägypten (und Israel)
bekannt gegeben, ihre jeweiligen Truppen innerhalb von zwölf Stunden auf
eine Zehn- Meilen-Distanz vom Kanal zurückzuziehen und der faktisch schon
stattfindenden Landung von anglo-französischen »Polizei«-Einheiten
zuzustimmen. Dies wird, wie zuvor geplant, von Israel sofort akzeptiert und
wie erwartet von der ägyptischen Regierung zurückgewiesen. Erst-
und letztmals in der Geschichte der UNO wird eine Resolution der USA, unterstützt
von der Sowjetunion, über den sofortigen Rückzug von allen fremden
Truppen von Paris und London mittels Veto blockiert. Damit haben sich die beiden
großen alten Kolonialmächte mit den beiden neuen Supermächten
angelegt. Der Außenminister der UdSSR wird London und Paris daran erinnern,
dass sie in Reichweite der sowjetischen Atomraketen liegen und die USA auffordern,
mit gemeinsamen Streitkräften in Ägypten zu landen. (Notfalls würde
die UdSSR dies auch im Alleingang tun.) Die USA beginnt einen stillen Wirtschaftskrieg
gegen das britische Pfund, welcher zu deutlichen Abwertungen führt. Die
Menschheit steht in dieser etwas ungewöhnlichen Konstellation wieder einmal
kurz vor einem Weltbrand.
Der von dem israelisch-anglo-französischen Komplott empörte Hammarskjöld
muss sich jetzt möglichst schnell etwas möglichst Geniales einfallen
lassen. Am 31. Oktober tadelt er in einer Rede vor dem Sicherheitsrat zum ersten
Mal öffentlich zwei Regierungen und ermahnt Paris und London, sich an
die Artikel und den Geist der UN-Charta zu halten: »Die Prinzipien der
Charta sind umfassender … und ihre Ziele heiliger als die Politik irgendeiner
einzelnen Nation oder eines Volkes.«
Der geniale Schachzug erfolgt einige Stunden später. Da der Sicherheitsrat
durch das anglo-französische Veto lahm gelegt ist, (ähnlich wie durch
das russisch-chinesische Veto in der Kosovo- Krise im Frühjahr 1999) inszeniert
Hammarskjöld in der Nacht vom 31. Oktober auf den 1. November 1956 mit
Hilfe von Repräsentanten der blockfreien Staaten die Reaktivierung des
legendären »Uniting for Peace Resolution«-Mechanismus der
Generalversammlung vom 5. November 1950. Diese Resolution besagt, dass, wenn
der Sicherheitsrat in wichtigen und aktuellen Fragen durch Veto blockiert ist,
diese Fragen auch der Generalversammlung zur ersatzweisen Beschlussfassung
(durch einfache Mehrheitsentscheidungen) vorgelegt werden können.
Damit begab sich Dag Hammarskjöld auf den steinigen Weg, aus der Generalversammlung
zwar noch kein echtes Weltparlament, aber immerhin eine dem Sicherheitsrat
(als stillgelegtes Exekutivorgan) übergeordnete quasi-Legislative zu machen.
Den kleinen und den blockfreien Staaten mochte diese Aufwertung entgegenkommen.
Den Veto-Mächten gegenüber war dies ein riskanter Präzedenzfall,
eine Gunst der Stunde. Bislang hatte meines Wissens kein nachfolgender Generalsekretär
mehr den Mut oder die Gelegenheit, den UFP-Mechanismus zu wiederholen. (Es
hatte auch keiner, wie Hammarskjöld damals, hierfür die kurzfristige
Unterstützung der Supermächte!)
Die Geburtstunde der UN-Blauhelme
Am 2. November nimmt die Generalversammlung die »Resolution
zur Feuereinstellung« von US-Außenminister Dulles an, während
britische und französische Flieger zur Vorbereitung der Landung
von Fallschirmtruppen (nicht nur) militärische Einrichtungen in Ägypten
bombardieren. Scheinheilig erklären Paris und London, dass sie ihre
eigene »Polizei«-Aktion stoppen würden, wenn die UNO
stattdessen eine internationale Polizeitruppe aufstellen könnte,
um für einen Waffenstillstand am Suezkanal zu garantieren. Beide
Regierungen wissen, dass dies ein unwahrscheinliches Novum in der Geschichte
des internationalen Rechts wäre. Doch Hammarskjöld und sein
Team durchkreuzen diese Spekulation. Das Neue manifestiert sich entgegen
den Erwartungen der alten Kolonialmächte.
Am 3. November legt der mit Hammarskjöld befreundete Delegierte Canadas,
Lester Pearson7, eine Resolution vor, welche den Generalsekretär bevollmächtigt,
innerhalb von 48 Stunden einen Einsatzplan für eine Notstandstruppe der
UNO zu erarbeiten. Der Nachfolger Graf Folke Bernadottes, der Afroamerikaner
und Friedensnobelpreisträger Ralph Bunche, wird von Hammarskjöld
inoffiziell zum »UN-Verteidigungsminister« ernannt. Es sollen grundsätzlich
keine Truppen der Großmächte eingesetzt werden. Der kolumbianische
Botschafter Francisco Urrutia ruft von Hammarskjölds Büro aus seinen
Präsidenten an. Auf dessen Zögern hin souffliert Hammarskjöld
dem etwas ratlosen Urrutia: »Wenn dies 1902 wäre, die UN existiert
hätte und eine Friedenstruppe hätte schicken können, dann hätte
Kolumbien nicht den Panama-Kanal verloren.« Kolumbien sagt Truppen zu.
Norwegen entwirft im Eilverfahren ein parlamentarisches
Notstandsgesetz, um Einheiten entsenden zu können. Es folgen Zusagen
von Canada, Dänemark, Finnland, Indien und Schweden. Die USA und
die Schweiz stellen Transportflugzeuge. Verschiedene Staaten drohen England
mit einer Auflösung des Commonwealth- Systems. Am 5. November präsentiert
Hammarskjöld die neue Notfalltruppe unter dem Namen »UN Emergency
Force« (UNEF) der Generalversammlung. Am 7. November akzeptieren
Paris und London die UN-Blauhelme, mit deren Existenz Hammarskjöld
die beiden (ehemaligen) Kolonialmächte aus Ägypten hinauskomplimentiert.
Bo Beskow schreibt in seiner Hammarskjöld-Biografie: »Wie
ein Schachspieler sah er viele Züge voraus und handelte dementsprechend.
[…] Es war der große Tag für einen alten Weltföderalisten,
als die erste wirklich internationale Polizeitruppe in der menschlichen
Geschichte, die UNEF, in magischen 48 Stunden aufgestellt wurde.« Die
6.000 UNEF-Soldaten aus allen Teilen der Welt symbolisierten als Puffer
zwischen zwei Streitparteien keine echte militärische Gewalt, sondern
einen moralischen Zwang durch Anwesenheit der Weltöffentlichkeit.
(Damals funktionierte diese Gleichung noch.) Dies war etwas Neues in
der Weltgeschichte.
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